Die
Geschichte von der Weihnachtsgans Auguste werden die meisten bereits
einmal gehört haben. Sie spielt zu einer Zeit, als in bürgerlichen
Häusern noch Personal angestellt und Ehefrauen Gattinnen waren.
Zusammengefasst hat sie folgende Handlung:
Der
Hausherr erwirbt lange vor dem Weihnachtsfest ohne Wissen seiner
Gattin eine lebende Gans. Den Kindern kann nicht vermittelt werden,
dass die gefiederte Schönheit in den Ofen muss und niemand aus dem Haushalt ist in der
Lage, sie zu schlachten. Selbst eine Vergiftung des Tiers scheitert
und der bereits gerupfte Vogel wird schließlich als Familienmitglied
aufgenommen und bekommt zum Fest eine Strickjacke.
Diese
rührselige Erzählung ist nicht mehr zeitgemäß. Deshalb hier die
Neufassung:
Nach
der Generalprobe mit anschließendem Umtrunk erwarb Opernsänger
Luitpold Löwenhaupt auf dem Wochenmarkt eine fünf Kilo schwere
Gans. In seiner Weinlaune stellte er sich duftenden Braten mit saftigem Rotkraut und herzhaften Knödeln vor. Ihm lief das Wasser im Munde
zusammen. Luitpold war zu Fuß und hatte mit dem zappelnden Federvieh
große Mühe. Die Arme wurden ihm lahm.
Zuhause
angekommen sah er reichlich mitgenommen aus und neben dem Geschnatter
der rebellischen Gans musste er sich in gleicher Lautstärke die
Vorhaltungen seiner Frau gefallen lassen: Was er sich dabei gedacht
habe, so lange vor dem Fest eine lebende Gans zu kaufen? Wo solle die
bleiben? Wer schlachte sie? Wie würden die Kinder damit umgehen?
Diese
waren inzwischen wegen des Lärms zur Stelle und quengelten, dass man
die schöne, liebe Gans doch nicht töten könne. Sie wollten niemals
Weihnachtsbraten. Spaghetti schmeckten ohnehin viel besser.
Und
schließlich erschien auch noch Theres, das Hausmädchen, schlug die
Hände über dem Kopf zusammen, weil der Vogel unter sich gemacht
hatte, und beklagte, jetzt wieder alles reinigen zu müssen. Als
beste Lösung schien allen, die Gans vorerst in den Keller zu
sperren, wohin der Vogel trotz heftigsten Widerstands gezerrt wurde.
Die Kellertür schloss sich und Ruhe kehrte ein.
Nach
dem Essen gingen die Eltern in den Salon, Theres nahm ein Bad, denn
sie wollte noch zum Arzt, und beide Kinder wurden auf ihr Zimmer
geschickt. Diese plagte allerdings das schlechte Gewissen. Hatte die
arme Gans ausreichend Licht? Musste sie nicht Futter und Wasser
bekommen? Sie schlichen zum Keller, um nach der Gans zu sehen. Kaum
hatten sie die Tür einen Spalt breit geöffnet, stürmte der Vogel
kreischend nach oben, flatterte in den Salon und stieß auf seiner
Flucht das Goldfischglas vom Buffet, dessen Inhalt sich über die
Chaiselongue sowie die darauf liegende Hausherrin ergoss. Mit spitzem
Schrei sprang die hoch, glitschte auf dem Fisch aus und knallte
vornüber in die Vitrine, aus der das Porzellan auf den Boden
klirrte. Luitpold musste dem Spuk entschlossen ein Ende bereiten!
Rasch
öffnete er die Haustür, um den Vogel auf die Straße zu scheuchen.
Doch draußen lief der greise Jäger Karl mit seinem Hund. Der
Weimaraner witterte die Gans, riss sich los und stürzte ins Haus,
verfing sich mit der Leine am Spazierstock des Hausherren und beide
prallten mit voller Wucht gegen die Badezimmertür. Die brach auf.
Schreckensbleich starrte Theres auf die Reißzähne im Maul des
Hundes und die Flinte in Karls Hand. Sie sprang aus der Wanne.
Panisch floh sie an Luitpold vorbei, der, von ihrer Nacktheit
benommen, zu keiner Handlung fähig, sinnierte, nichts davon gewusst
zu haben, dass sein Dienstmädchen herrschaftlichere Proportionen als
seine Gattin hatte. Theres hetzte auf die Straße, wo sie auf einer
gefrorenen Pfütze ausrutschte und fast zu Boden fiel. Schneeflocken
schmolzen auf ihrer vom Bad geröteten Haut. Ein Autofahrer wurde
abgelenkt, kam in den Gegenverkehr und mit lautem Geschepper stießen
die Wagen zusammen. Karl schoss auf den Vogel und traf die Badewanne.
Ihr Inhalt plätscherte in den Raum. Schon bildete sich eine
Menschentraube vor dem Haus und die Gans nutzte die Gelegenheit zur
Flucht.
Als
sie am Graben bei den Enten ankam, hörte sie noch in der Ferne das
Lalülala eines Krankenwagens.
© Karl Hackelbusch
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